Fotografie
Bilder einer Generation: Die Villa Schöningen in Potsdam zeigt die Fotoserie von Michael Schmidt aus den späten 1990er-Jahren.
© Quelle: Julius Frick
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Der Fotograf Michael Schmidt hat Aktaufnahmen von einer bestimmten Frauengeneration gemacht. Sie sind hoch politisch. Seit mehr als 20 Jahren ist die Serie in der Villa Schöningen in Potsdam wieder komplett zu sehen.
Potsdam. Die Augen der jungen Frau lassen eine gewisse Portion Verachtung durchblicken. Frontal schaut sie in die Kamera. Selbstsicher, selbstgewiss – und irgendwie ein typisches Gesicht der 90er-Jahre. Ungeschminkt, Ohrringe, halblange Haare hinters Ohr gekämmt. So sahen viele damals aus.
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Es ist eines von vielen Gesichtern, die derzeit in der Villa Schöningen in Potsdam zu sehen sind. Mal blicken sie einen etwas grimmig an, mal verwundert, zweifelnd, andere wiederum fordernd oder erwartungsvoll, das eine oder andere auch aufgeschlossen, freundlich.
Michael Schmidt fotografierte die Frauen zwischen 1997 und 1999
Aufgenommen hat diese Bilder der Berliner Fotograf Michael Schmidt. Zwischen 1997 und 1999 sind sie entstanden. Abgebildet sind ausschließlich Frauen im Alter zwischen 14 und 30 Jahren, also in der Zeit zwischen Pubertät und erster fester Identitätsfindung. Man könnte auch sagen, innerhalb jenes Lebensabschnitt, in dem jemand seine Persönlichkeit ausbildet.
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Die Fotos von Michael Schmidt sind insofern Bilder einer bestimmten Generation – derjenigen, die die Versprechen der Nachwendezeit von grenzenloser Freiheit und individueller Selbstverwirklichung ernst genommen hat. Schmidt versucht dieses Gefühl der Einzigartigkeit im Geist dieser Generation zu dokumentieren. Und deshalb fotografiert er nicht nur Gesichter, sondern auch Kleider, Schmuck und vor allem Körper – bekleidet wie unbekleidet.
Frauenporträt von Michael Schmidt (Auschnitt).
© Quelle: Julius Frick
Insgesamt 81 analoge Schwarz-weiß-Fotografien des 2014 verstorbenen Fotokünstlers sind in der Ausstellung zu sehen. Schmidt arbeitet bevorzugt in Serien. So versuchte er 1987 mit dem Zyklus „Waffenruhe“ ein Psychogramm des kalten Krieges zu zeichnen, indem er Gesichter, Landschaften, Szenen in geteilten Berlin der späten 80er-Jahre ablichtete und nebeneinander stellte. Wenig später ging es ihm mit der Serie „Ein-heit“ um die Stimmung im gerade vereinten Deutschland.
Nackt und bekleidet, individuell und trotzdem fast überall gleich
Bei den Frauen nun wollte Schmidt das kollektive Lebensgefühl jener Postpunk-Generation ergründen, die in den 70er- und 80er-Jahren geboren wurde. Und zwar ausschließlich das der Frauen. Dafür wählte er feste Formate. Er zeigt neben den Gesichtern auch Aufnahmen von der Seite und vom Hinterkopf, lichtet die Frauen von Kopf bis Taille von vorne wie von hinten ab, richtet seine Kamera aber auch so auf die Körper der Frauen, dass Kopf und Beine abgeschnitten sind. So entstanden Bilder, die den Blick entweder auf die reine Bekleidung konzentrieren oder auf den nackten Torso.
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Elke Krystufek: „Tiger Lily“ von 1998.
© Quelle: Julius Frick
Was Schmidt mit dieser Methode gelingt, ist in der Tat das Porträt einer Generation. Einer H&M-Generation, wenn man auf die Bekleidung schaut. Alle Frauen tragen fast dieselben Shirts mit Spaghetti-Trägern, kleiden sich mit ähnlichen Sweatshirts, Jeans oder Jacken. Selbst bei den Frisuren gibt es nur wenige Abweichungen von den Varianten verwuschelt-punkig, glatt nach hinten gekämmt oder hochgesteckt. Geradezu schlagend führt Schmidt vor, wie ausgerechnet die Exemplare einer Generation der Selbstverwirklicher und Individualisten einander gleichen. Selbst die Schmuckstücke an Fingern, Ohren oder Bauchnabel verlieren ihre vorgebliche Einzigartigkeit. Fast boshaft möchte man sagen: Ausgerechnet in der Hochzeit des Neoliberalismus, der doch den Individualismus zur Religion erklärt hatte, ist das Einzigartige überall das Gleiche.
Politische Körper
Die letzten Spuren von Individualität tauchen ausgerechnet dort auf, wo sämtliche Insignien der persönlichen Kennzeichnung und Abgrenzung wie Schmuck oder Kleidung nichts mehr bedeuten können. Auf der blanken Haut, dort etwa, wo sich neben den Nabelpiercings die Muttermale einzigartig anordnen. Und man fragt sich unweigerlich, wie viel davon heute noch übrig bliebe – in Zeiten, in denen die Oberfläche fast jedes Körpers durch Tattoos optimiert wurde.
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Die Fotografien von Michael Schmidt politisieren so in gewisser Weise die Körper. Die Ausstellung in der Villa Schöningen unterstreicht dies, indem sie Frauenporträts von zwölf Künstlerinnen unterschiedlicher Generationen dazwischen stellt und miteinander ins Gespräch – in „Conversation“ – bringt . Etwa mit dem „Weiblichen Halbakt mit Pagenkopf“ von Jeanne Mammen aus dem Jahr 1930. Hier ist es die Frisur, die seinerzeit ein politisches Statement der selbstbewussten modernen Frau ausdrückte. Oder „Tiger Lily“ von Elke Krystufek. Die österreichische Künstlerin hat 1998 vor einen weiblichen Akt eine Wand aus Glitzer-Punkten gemalt. Hinter der Show-Fassade wird die unbekleidete Frau zur Kampfmaschine.
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Anne Imhof „Untitled“ von 2017 (Auschnitt).
© Quelle: Julius Frick
Und die feministische US-Künstlerin Hannah Wilke ist mit einem zehnminütigen Striptease-Video aus den 70er-Jahren vertreten. Hinter einer Glaswand scheint sie mit ihren Posen sämtliche Klischees der Männerunterhaltung zu erfüllen – mit einer Ausnahme. Sie selbst schaut versteinert in die Kamera und zerstört somit sexistische Erwartungen. Der Akt des Entkleidens wird so zu einer ziemlich unerotischen Veranstaltung.
„Der weibliche Körper, was könnte politischer sein“, fragt Ausstellungskuratorin Sonia González. Die Schau in der Villa Schöningen vermittelt einen Eindruck davon.
Michael Schmidt: Frauen in Conversation. Villa Schöningen, Potsdam, Fr-So, 11-17 Uhr, bis 10. März 2024.
MAZ
Author: William Doyle
Last Updated: 1700270882
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