Unsere Autorin hat schon als Kind von einem vor 100 Jahren eingemachten Huhn in ihrer Familie gehört. Sie beschließt, der Geschichte nachzugehen.
Nach dieser Recherche hat unsere Autorin beste Chancen, selbst Hüterin des Huhns zu werden Foto: Sebastian Erb
Wann ich das erste Mal vom hundertjährigen Huhn meiner Familie gehört habe, weiß ich nicht mehr. Meine Urgroßeltern hatten – wie häufiger üblich zu Beginn des 20. Jahrhunderts – zehn Kinder. Ich habe mich immer schwergetan, deren Kinder und Kindeskinder auseinanderzuhalten. Damit ich mir die Verwandten für Familienfeiern merken konnte, erzählte mein Vater möglichst anschauliche Anekdoten über sie. „Christiane ist die Tochter von Tante Trudi und die Hüterin des hundertjährigen Huhns.“
Ein Huhn, das hundert Jahre alt ist?
Die Legende geht so: Meine Urgroßmutter Friederike hatte vor über hundert Jahren ein Huhn eingekocht, das seither von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Weitere Einzelheiten kannte mein Vater nicht. Vielleicht war das nur wieder so eine Familienerzählung, die sich irgendwann von realen Begebenheiten entfernt hat?
Seit Corona unser Leben bestimmt, machen sich auch Menschen über Vorratshaltung Gedanken, die Konserven bislang altmodisch fanden. Meine Freund*innen posten Eingemachtes auf Instagram und fermentieren sich durch die Ernten ihrer Stadtrandäcker. Zeit, herauszufinden, was dran ist am ewig haltbaren Huhn.
Ich besorge mir Christianes Nummer und spreche auf den Anrufbeantworter. „Hallo, hier ist Gisa, die Tochter von Enno.“ (Auf unseren Familienfesten versteht man, woher das System der alten skandinavischen Nachnamen stammt.) „Ich habe gehört, dass du die Hüterin des hundertjährigen Huhns bist, und wollte fragen, ob ich es mir mal ansehen kann.“
Ich mache mich auf den Weg von Berlin nach Falkenberg/Elster im südlichen Brandenburg. Alleebäume, die sich zu beiden Seiten der Straße neigen. Die Gegend gibt keine Hinweise darauf, welches Jahr oder Jahrzehnt wir haben. Eine ruhige Straße, eine unaufgeregte Doppelhaushälfte aus den 30er Jahren.
Für schlechte Zeiten
In Christianes Küche, die sich wenig verändert hat, seit ich in den 90er Jahren das erste Mal da war, versuchen wir, die Geschichte vom Huhn zu rekonstruieren. Die Quintessenz der verschiedenen Versionen: Zu einer Familienfeier 1914 oder 1915 sollte es Fleisch geben, aber Fleisch war rar und teuer. Der Krieg hatte gerade begonnen. Meine Urgroßeltern entschieden sich, den Hahn zu schlachten, obwohl man in der Familie nicht gerne Huhn aß. Besser Huhn als nichts. Als sie kurzfristig doch noch anderes Fleisch auftaten, wanderte der tote Hahn ins Einmachglas. Für schlechte Zeiten.
Es kamen Zeiten, die wirklich nicht gut waren, aber sie waren offenbar nicht schlecht genug.
Der Erste Weltkrieg dauerte an – und das Huhn wurde nicht gegessen. Es kam der Zweite Weltkrieg – und das Huhn wurde nicht gegessen. „Es gibt in der Familie den Spruch: Wir essen kein Geflügel“, sagt Christiane.
Ich muss an meinen Onkel denken, Besitzer eines Geflügelmastbetriebs, bei dem ich einmal 60.000 Hähnchen eingestallt habe. Und an meinen Bruder, der gerade einen Stall für seinen Hahn Olivia Jones und vier gefiederte Hühnerdamen gebaut hat. Auch mein Vater will von der Hühnerabneigung der Holzhausens noch nie etwas gehört haben. Sie scheint sich nicht auf allen Zweigen des Stammbaums durchgesetzt zu haben.
taz am wochenende
Ein Huhn, das vor über 100 Jahren eingemacht wurde, zwei Weltkriege überstanden hat und angeblich immer noch existiert? Klingt irre, ist aber eine seit Generationen erzählte Familiensaga unserer Autorin – in der taz am wochenende vom 12./13. September. Außerdem: Jens Spahn im Interview über Corona und die Grünen. Und: Moria ist abgebrannt. Wie geht es für die Geflüchteten weiter? Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Und wenn das Huhn keiner essen wollte, warum ist es dann noch da? Während der Kriege warf man nichts weg. „Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Punkt erreicht, wo man es nicht mehr gegessen hätte“, sagt Christiane. Aber da sei es schon so alt gewesen, da habe man es nicht mehr wegwerfen wollen. „Es wurde dann in meiner Kindheit zum Spiel, das alte Huhn anzuschauen.“ Christiane ist 1963 geboren. In Aue, in Beyern, in Falkenberg – immer stand das Huhn im Keller der Familie. Und in der DDR warf man auch nichts weg. „Wir hatten ja nichts“, sagt Christiane. Es klingt mehr nach Zitat als nach eigener Erinnerung.
Christiane sitzt am Küchentisch und blättert in einem Büchlein, kunstvoll verziert, mit Seiten für jeden Tag im Jahr. „Christliches Vergissmeinnicht“ steht drauf, alte Schrift, goldene Buchstaben. Wann und zu welchem Anlass wurde das Huhn denn nun wirklich eingekocht – 1914 oder 1915? Zur Taufe oder Konfirmation? Wie bei den Evangelien unterscheiden sich auch bei der Geschichte des Huhns die Versionen leicht. Christiane forscht akribisch nach dem Datum, im dritten Vergissmeinnicht wird sie fündig. Das muss es sein, im August 1915! Die Taufe von Friedrich Wilhelm Franz Hindenburg (das war ja noch en vogue) Holzhausen, ein Bruder meines Opas, geboren: im August 1915. Früher wurde schnell getauft. Aus Vorsicht. Er fiel im Zweiten Weltkrieg.
Ja, aber wo ist denn nun das Huhn und wie sieht es aus? Ich hatte mir immer ein Einmachglas mit einer grau-rosa-gelangweilten Frikassee-Masse ausgemalt. Nichts, was man noch hätte essen wollen. Wir gehen in den Keller. Erwartet mich nun ein Epiphania-Moment oder etwas sehr Triviales? Es ist ein Keller, wie ich ihn so ähnlich aus meiner Kindheit kenne: Ein paar Treppenstufen hinunter geht es in die Waschküche; linker Hand, ein paar Stufen hoch, ein niedriger Vorratsraum voll mit Regalen, in denen Konservendosen und Gläser stehen. Es ist angenehm kühl.
Christiane stellt einen Stapel leere Tupperdosen beiseite und holt vorsichtig das Einmachglas dahinter hervor. „Das Huhn stand immer hinten im Regal.“ In unserem Telefonat hatte sie bereits erwähnt, dass sie schon öfter Angst hatte, dass es kaputtgeht.
Das Wort Prepping ist hier weiterhin, was es ist: ein Fremdwort. Vorratshaltung hat in unserer Familie nichts mit der politischen Haltung zu tun. Ernstfall bedeutet, dass auf einer Party das Buffet leer wird.
Christiane trägt das Glas vor dem Körper mit beiden Händen, behutsam stellt sie es auf dem Tisch ab. Sie macht das wie eine Zeremonienmeisterin. Mit einem ernsthaft-schelmischen Blick schaut sie über die randlosen Brillengläser. Ein Blick, der mich an Angela Merkel privat erinnert. Ich habe tatsächlich das Gefühl, einem quasi-religiösen Ereignis beizuwohnen. Das heilige Huhn – Ziel einer Pilgerreise. Das Licht, das durchs Fenster fällt, lässt die Masse am Boden des Glases bernsteinfarben leuchten.
Meine neue Zeitrechnung jetzt: BC und AC. Before Chicken und After Chicken
Der kleine Hahn sieht gar nicht so alt aus. Farbe rosig blass, die Hähnchenschenkel ragen in die Höhe, sogar die Noppen auf der Haut, wo die Federkiele saßen, sind noch erkennbar. Im unteren Teil des Glases hat sich die gallertartige Masse abgesetzt. Ich muss an die Forschungssammlung des Naturkundemuseums in Berlin denken. „Das Huhn ist wie Lenin, mumifiziert“, sagt Christiane. Man merkt, dass sie diesen Scherz nicht zum ersten Mal macht. Bei meiner Verwandtschaft kommt er sicher immer gut an, auch wenn die Techniken der Haltbarmachung bei Broiler und Bolschewist selbstverständlich leicht variierten.
Das Glas ist von der Firma Weck, die das Einmachen so geprägt hat, dass man heute auch von Einwecken spricht. Es hat eine Patina, die es als Requisite für jeden Kriegsfilm qualifiziert. Die Firma J. Weck und Co. feiert dieses Jahr ihr 120-jähriges Jubiläum. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs wurden die Gläser noch mundgeblasen, so also auch dieses.
Das Huhn ist längst zum Kult geworden Foto: Sebastian Erb
Ist es vielleicht das älteste eingekochte Huhn in Deutschland – oder sogar weltweit? Jetzt geht es ans Eingemachte: Ich rufe den Archivar der Firma Weck an, Rüdiger Mengel. Ob sie so etwas „Gewöhnliches“ wie ein Huhn aus der Zeit noch hätten, ist sich der Archivar nicht sicher, älteres Fleisch haben sie. Ein Rebhuhn von 1911 ist noch da. Und: „Es gibt ein historisches Glas, Löwenfleisch von 1913 eingekocht.“ Als in Leipzig 1913 sechs Löwen aus dem Zoo ausbrachen, wurden sie gejagt und zum Teil – eingekocht. „Wir hatten noch Kolonien in Afrika und probierten daher unterschiedliche Dinge aus. Elefantenrüssel in Aspik, das war schon bekannt, oder Termiten einzukochen. Aber mit Löwenfleisch hatte man keine Erfahrung. Aus diesen Experimenten ist ein Einkochglas übrig geblieben“, erklärt mir Mengel. Löwen hin oder her – es gibt kein älteres eingewecktes Haushuhn im Archiv. Dafür aber eine alte Anleitung zur „Verwertung von zahmem Geflügel“ im hauseigenen Einkoch-Ratgeber.
Meine Familie besitzt vielleicht wirklich das älteste Huhn Deutschlands.
Irgendjemand hat vermutlich mal versucht, das Glas aufzumachen, die Laschen des Gummis sind abgerissen. „Die organische Gummidichtung wird porös und bröckelt ab, aber da wo das Vakuum ist, bleibt der Gummi intakt“, erklärt Mengel. Der Deckel sitzt fest. Man müsste ihn wegstemmen, um das Glas heute zu öffnen.
Wie es wohl riechen würde? Wäre es noch genießbar? Bei einer grauen Frikassee-Masse hätte ich mir diese Fragen nicht gestellt. Die Firma Weck hat Experimente mit 50 Jahre alten Bohnen gemacht – bestens bekömmlich. Im Ratgeber steht zum Aufwecken: „Man öffne das Glas, stelle es einige Minuten an die frische Luft, nehme das Geflügelstück heraus und befreie es von der unten sitzenden Fettschicht.“ Ob das auch nach 105 Jahren noch gilt?
Dem Huhn huldigen
Meine Großcousine sagt, sie habe Angst, dass alles in die Luft fliegen würde. Nein, das Huhn soll da bleiben, wo es ist.
Wann wird es hervorgeholt? „Nur wenn jemand kommt. Es ist nur ein Gag eigentlich“, sagt Christiane. Meiner Meinung nach wurde das Stadium des Gags längst überschritten – und auch sie weiß es: Es ist ein Kult. Zumindest in der Familie.
Ob so Religionen entstehen? Immer wieder kommen die Menschen, um dem Huhn zu huldigen, bis irgendwann keiner mehr so richtig weiß, warum eigentlich.
So ganz einzigartig ist die Idee nicht. Im deutschen Aberglauben und in Redewendungen sind Hühner vielfach vertreten. Unter anderem im Voodoo-Kult gilt das Huhn als Seelenführer bei Initiationsriten; keine Mythologie, in der Hahn und Huhn nicht vorkommen. Thomas Mann beschreibt das Eingeweckte im „Zauberberg“ als etwas, das der Zeit entzogen ist. „Es war hermetisch von ihr abgesperrt, die Zeit ging daran vorüber, es hatte keine Zeit, sondern stand außerhalb ihrer auf seinem Bord.“
„Alles andere kommt weg, aber das Huhn hat Bestandsschutz.“ Wieder dieser ernsthaft-verschmitzte Ton von Christiane. Ich darf es halten – und spüre die Verantwortung. Das holzhausensche Huhn. Die Angst, dass es kaputtgeht, schwappt auf mich über. Ein Sakrileg! Je älter es wird, desto heiliger wird es.
Vorsichtig stellt Christiane das Glas wieder an seinen Platz ganz hinten im Regal und schiebt die Tupperdosen davor. Wird sie das Huhn ihrer Tochter übergeben? „Die interessiert sich eher nicht.“ Ich glaube, mit dieser Geschichte habe ich mich ganz oben in die Liste der Anwärter*innen für das Amt der Hüterin des Huhns befördert.
Meine neue Zeitrechnung jetzt: BC und AC. Before Chicken und After Chicken.
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Author: Michael Castro
Last Updated: 1703399521
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